Bandwurm

===== Der Bandwurm =====

Es würde ihm nur wenig Zeit bleiben. Manfred goß sich nervös den letzten Rest Kaffee in seine seit zwei Wochen nicht gespülte Tasse, verschüttete dabei die Hälfte. Wenn er jetzt handelte, gab es kein zurück mehr. Er würde vermutlich bald auf nimmer Wiedersehen im abgelegensten Knast dieser unserer Republik landen. So bewegte sich sein Zeigefinger nur zögernd zur RETURN-Taste, um sie schließlich zitternd zu berühren.

Nun war es zu spät, sich weitere Gedanken zu machen. Er wusste, das nicht einmal er selbst den nun ausgelösten Prozess stoppen konnte, keiner würde das können, ohne die Ganglien des allumfassenden Netzwerkes endgültig zu kappen. Er wusste auch, das er sehr viel Dreck aufwirbeln würde, daß das kaum vorstellbare Chaos der nächsten Stunden ihn mit Sicherheit verraten würde. In ein paar Stunden würden sie kommen und ihn holen, daran war nichts mehr zu ändern. Er setzte sich entspannt in den abgewetzten Ledersessel und wartete. Jetzt wo es geschehen war, fühlte er sich seltsam erleichtert- seine innere Anspannung war verflogen, alle würden nun die Wahrheit erfahren.

Er dachte darüber nach, was wohl gerade passieren würde und ob er doch noch eine Chance hatte, zu entkommen. Nein das war zwecklos, er würde eine unübersehbare Spur hinterlassen, was auch immer er tat. Er könnte nicht einmal eine Tankfüllung Benzin bekommen, der Verkehrsleitrechner, der Bankrechner, alle würden seiner Spur folgen. Seine eigene Tat würde sicher auch zu seiner Entlarvung führen, je besser er sich tarnen würde, umso schneller wäre er verraten. Kein Trick zog mehr. Es blieben ihm nur ein paar Stunden, dabei war egal, wo er sich aufhielt. Zudem war er nur ein einfacher Bürger und konnte keine Geheimnisse haben. Geheimnisse konnten sich nur Großfirmen und Parteibonzen leisten, sie hatten die Mittel und die Leute, um die Systeme zu manipulieren und Informationen zu vertuschen.

Doch damit war jetzt Schluss, die Gedanken an die Schlagzeilen von Morgen amüsierten ihn. Sein soeben erweckter Bandwurm würde sich durch die dunkelsten Ecken der Datennetze wühlen, Konten und Gegenkonten vergleichen, mit der Spürnase eines Jagdhunds jede Widersprüchlichkeit und Unsauberkeit im Netz der Datenbanken entdecken. Er würde die Wege der Bestechungsgelder, die Manipulation der Wirtschaftsstatistiken, die Verleumdung von politischen Gegnern, Wahlbetrug und Steuerunterschlagung aufdecken.

Das System war einfach zu perfekt, als das eine Manipulation vollkommen verschleiert werden konnte. Nur konnten die Leute an der Macht den Informationsfluss steuern und ihre Verbrechen unter dem Mäntelchen von angeblichen Staatsgeheimnissen und vorgeblichen Bemühungen um Schutz und Sicherheit der Bürger verbergen. Sie wussten über alles Bescheid, ließen aber nichts nach außen dringen, das Postmonopol manifestierte ihr Recht auf Betrug. Sein illegaler Eingriff würde das ganze System sprengen, den ganzen Sumpf aufwühlen.

Sie hatten nur noch zwei Möglichkeiten: Rechtzeitig zu verschwinden oder das ganze Netz lahmzulegen, dann aber würde die gesamte Volkswirtschaft zusammenbrechen. Sein Bandwurm vermehrte sich in den Netzen, ehe sie ihn bemerken würden, würden Millionen von Kopien unterwegs sein, alle zehn Minuten verdoppelte sich ihre Anzahl, mit jeder Minute wurden hunderte von neuen Skandalen aufgedeckt. Kein Mensch und kein Computer war bereits in diesem Moment mehr in der Lage, alle Kopien zu entdecken und zu vernichten, jede vergessene Kopie konnte erneut das Netz verseuchen. Die Netze gehörten jetzt den Bandwürmern, nur wer sich rechtzeitig ausklinkte, war sicher. Die Bandwürmer würden sich in ein paar Wochen selbst vernichten, der Spuk war dann wieder zu Ende. Manfred war kein Terrorist, er wollte keine immerwährende Anarchie. Nein, sein Bandwurm war nur ein gutes Abführmittel, sollte nur die Fäulnis der Korruption und Seilschaften aus dem System fegen. Ein paar Wochen reichten dazu völlig aus.

Auch würden die Leute weniger gleichgültig sein, das wahre Gesicht dieses “demokratischen” Staats hinter der scheinheiligen “Frieden in Freiheit” - Maske erkennen. Alle Ungereimtheiten würden für jedermann sichtbar ins öffentliche Informationssystem eingespeist, und niemand konnte das mehr verhindern. Er brühte sich neuen Kaffee auf und setzte sich wieder vor sein Terminal. Nun konnte er sich die Zeit mit dem Lesen der ersten Erfolge seiner Bandwürmer verbringen. Er wählte sich in den Nachrichtenteil des BTX-Boten und wurde von einer endlosen Liste überwältigt.

Interessant was man hier alles erfahren konnte: Bei einem großen Lebensmittelhersteller hatte die Beschriftung der Büchsen nicht das geringste mit dem Inhalt zu tun. Manfred hatte das Zeug selbst schon oft gegessen, fühlte sich auf einmal gar nicht mehr so gesund, wie dieser Schleim aus Abfällen der Ölproduktion nach der Werbung des Herstellers sein sollte. Aus der Forschungsabteilung eines Automobilkonzerns kamen die Ergebnisse von Crash-Tests, die so gar nicht zur angeblichen Sicherheit der Fahrzeuge passen wollten.

Eine Wasseranalyse des Trinkwassers von Köln ließ den Schluss zu, das man es nicht nur gut zum Entwickeln von Filmen verwenden konnte, sondern das man auch kein Waschpulver mehr brauchte, weil Tenside genug drin waren. Bundeskanzler Karl Fiol erhielt dafür von den Hinkel-Werken in Koblenz eine sechsstellige Summe, sein Parteifreund Hehl war dort im Aufsichtsrat und finanzierte auch noch eine Bewegung zur Rettung des Odenwalds. Dieser Wald wurde ja schliesslich von den Hinkel-Werken zur Erprobung chemischer Kampfstoffe gebraucht, jede Umweltbelastung verfälscht schließlich die Messergebnisse.

So las Manfred noch einige Stunden die überaus aufschlussreichen Entdeckungen seines elektronischen Helferleins, bis er draußen eine Fahrzeugkolonne vorfahren hörte. Kommandos wurden gebrüllt, eine Hundertschaft Polizisten schienen draußen in Stellung zu gehen, als auch schon die erste Tränengas-Granate durchs geschlossene Fenster flog und auf dem Teppich explodierte.

Manfred wollte gerade aufstehen, als auch schon ein Sonderkommando die Wohnung stürmte und ihn unsanft hinaus zerrte. Er leistete keinerlei Widerstand, wozu auch? Als sie ihn in der Morgendämmerung zu dem gepanzerten Jeep führten, lächelte er über den Aufwand, den die Sicherheitsorgane hier vorführten. Das alles würde nicht mehr das geringste ändern.

Niemand konnte nun mehr den Gang der Dinge aufhalten, in diesem Moment knabberte sein Bandwurm an den Resten des Systems, welches ihn hier festsetzte. Vielleicht war ja schon der Polizeichef, der diese Truppe losschickte, untergetaucht ?

Bald würde er es wissen - aber auch jeder andere der sich dafür interessierte !