Ozean der Zeit

Aufbruch Link to heading

Als Gert den Generator abschaltete, konnte er keine Veränderung im Raum feststellen. Alles lag noch an seinem Platz, auf dem Schreibtisch lagen seine Notizen, einige angeknabberte Kugelschreiber neben Kekskrümeln und etlichen schmutzigen Kaffeetassen. Der Kaffee in der Thermoskanne war noch warm. Auf dem Radiowecker neben dem ungemachten Bett konnte er ablesen, dass es viertel vor vier war. Draussen schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel auf die Stadt herab, deren aufgestaute Hitze er noch durchs geschlossene Fenster spürte. Es war ein heißer Augusttag, am Abend würde wahrscheinlich ein Gewitter vorübergehende Abkühlung bringen. Er schaute auf die Armbanduhr, die Fünf nach vier anzeigte. Das war also wieder mal ein Fehlschlag, dachte er. Wirklich nichts hatte sich hier getan. Nun ja, vielleicht würde er draußen etwas bemerken.

Als er das Haus verliess, schien ihn die Hitzewolke förmlich zu erschlagen. Es war bestimmt über vierzig Grad warm. Auf der Straße vor ihm kroch ein Auto im Schneckentempo vorbei, auf der anderen Seite spielten ein paar Kinder scheinbar lustlos Fussball. So ein richtig fauler Sommertag, dachte er, als er die allgemeine Gemächlichkeit bemerkte. Im Zeitlupentempo näherte sich in der Ferne ein Bus. Das heißt, es dauerte lange, bis man ihn durch die Hitzeschlieren über der Strasse hindurch wahrnahm. Er ging zum Kiosk an der Ecke, um sich eine Tageszeitung zu kaufen. Die alte Frau, die seit er sich erinnern konnte, in diesem Kiosk verkaufte, schien ihn nicht zu bemerken. Erst nachdem er ihr dreimal einen guten Tag gewünscht hatte, kam sie langsam zu ihm herüber und begrüßte ihn schwerfällig.

“Ich hätte gern das Tagblatt”, sagte er. Ihr schien die Hitze sehr zu schaffen zu machen, denn sie sah in gut eine Minute lang nur erstaunt an, sagte aber nichts. Eine weitere Minute später hatte sie dann endlich ein Exemplar der Zeitung vom Stapel genommen und reichte es ihm zögernd herüber. Er bezahlte und sagte “Verdammt heißer Tag heute”. Eigentlich erwartete er eine Antwort aber die alte Frau sah ihn nur lange erstaunt an. Mit Frau Wagner ist heute nicht viel anzufangen, dachte er und ging weiter die Strasse hinauf. Als er zum Park kam, schlug die Kirchturmuhr vier. Er schaute auf seine Armbanduhr, die bereits viertel vor Fünf anzeigte. Er stellte seine Uhr auf vier Uhr zurück. Diese Uhr würde er wohl bald zum Uhrmacher bringen müssen, so falsch wie sie ging. Er setzte sich auf eine Parkbank und faltete die Zeitung auseinander.

“Kanzler Seifert in Moskau eingetroffen”, lautete die Schlagzeile. Nun ja, für Politik hatte er sich nie ernsthaft interessiert, obwohl er hätte schwören können, das Seifert nicht Kanzler, sondern Oppositionsführer war. Desinteressiert blätterte er weiter zu den kommunalen Nachrichten. “Umgehungsstrasse wird nun doch gebaut”, prangte über einem längeren Artikel, in dem es um Auseinandersetzungen wegen einer Strasse durchs Mühltal ging, einem romantischen Feuchtgebiet in der Nähe der Stadt. Er las diesen Artikel und einige andere, die von Sanierungsmaßnahmen, Verkehrsunfällen und Veranstaltungen handelten, aber nichts war für ihn von besonderem Interesse.

Er stieß auf die Anzeige eines Supermarkts in der Nahe und studierte die Sonderangebote. Er dachte daran, daß sein Kühlschrank ausser einem vertrockneten Käse und zwei Flaschen Bier und einigen schon lange nicht mehr frischen Eiern nichts essbares mehr enthielt und beschloss, anschliessend einkaufen zu gehen. Zuerst wollte er jedoch in Ruhe die Zeitung fertiglesen. Er sah sich noch das Kinoprogramm an, stellte aber fest, das außer Heimatschnulzen und Western nichts geboten wurde. Im Technik-Teil war ein interessanter Artikel über einen neuen Elektro-Antrieb für Autos, auch wurde ein neuer, umweltfreundlicher Kunststoff vorgestellt. Im Wirtschaftsteil war mal wieder vom steigenden Ölpreis und der Stagnation der Schwerindustrie die Rede. Insgesamt gab es nicht viel bemerkenswertes, Gert stand auf und ließ die Zeitung auf der Parkbank liegen.

Zum Supermarkt konnte er zu Fuß gehen, es war von hier aus noch eine Strecke von etwa zwei Kilometern. Das würde schneller gehen, als nach Hause zu laufen, das Auto zu holen, um dann eine halbe Stunde lang mitten in der City nach einem Parkplatz zu suchen. Er ging noch ein Stück durch den Park, der die Gemächlichkeit des Sommertages wieder spiegelte. Das Wasser des Springbrunnens rann zäh wie Sirup aus den Wasserspeiern, die Goldfische im Teich schienen stillzustehen, kein Zweig, kein Blatt rührte sich in der drückenden Hitze, es war beinahe Windstille. Die wenigen Menschen, die sich im Park aufhielten, waren nur durch ihre bunte, leichte Sommerkleidung von den Marmorstatuen an den Wegrändern zu unterscheiden. Bis auf dumpf grollende Verkehrsgeräusche von der nicht weit entfernten City war es im Park auch vollkommen still.

Als er den Park verließ und die Hauptstrasse erreichte, kam ihm alles noch langsamer vor. Die Rush-Hour hatte begonnen und der Verkehr schob sich zähflüssig durch die viel zu schmale Strasse. Trauben von Fussgängern drückten sich im Schatten der Markisen vor den Geschäften herum, ohne merklich voran zu kommen. Ihre Gesichter waren schweißgebadet und die meisten wirkten irgendwie abwesend. Vor dem Strassenkaffee waren alle Plätze besetzt und am Eisstand bildete sich eine lange Schlange. Die Glocke des nahen Kirchturms schlug halb Fünf. Bert war überrascht, denn er meinte, länger unterwegs gewesen zu sein. Er schaute auf seine Armbanduhr, auf der es bereits fünf Minuten nach Fünf war.

Seine Uhr konnte er wohl getrost vergessen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie eine Quarzuhr so falsch gehen konnte, zumal wenn sie vorher zwei Jahre lang einwandfrei funktionierte. Gut, sie hatte nur zwanzig Mark gekostet und die Batterie hatte er noch nie gewechselt, aber konnte sie dadurch so ungenau werden? Die Hitze machte ihn schlapp und er setzte sich auf die Umrandung des Brunnens am Marktplatz. Im Schatten eines großen Ahornbaums ließ es sich hier aushalten. Er dachte nun wieder an seine Arbeit.

Segler im Wind der Zeit Link to heading

Er hatte eine ungewöhnliche Hypothese bezüglich der Struktur von Raum und Zeit ausgearbeitet. Beinahe jeder wusste heutzutage, daß es nicht nur die drei Dimensionen des Raumes gab. So wie der Mensch, solange er nicht fliegen konnte, nur zögernd die seinen Sinnen zugänglichen drei Raumdimensionen begriff, so schwer tat er sich mit ihm nicht zugänglichen Dimensionen und vor allem mit der Zeit.

Bestand die Zeit für den Urmenschen nur aus der Gegenwart - dem augenblicklichen Zeitpunkt, so entwickelte sich mit der menschlichen Kultur ein anderes Zeitverständnis. Die Zeit wurde zur Geraden, die von der Gegenwart durch die Geschichte in die fernste Vergangenheit reichte. Diese Gerade war gerichtet und hatte ihren Endpunkt in der Gegenwart. Seit alters her wurden immer Wege gesucht, die Zukunft zu entschleiern, die man als natürliche Verlängerung der Geraden ansah. Immer scheiterten solche Versuche daran, daß der Weg in die Zukunft eben nicht geradlinig war, sondern daß die Stolpersteine des Zufalls, dem der Mensch den Namen Schicksal gab, ihn von seinem geplanten Weg abbrachten. Dieses Bewusstsein ließ den Menschen die Statistik entdecken.

Die Wahrscheinlichkeit oder Probabilität wurde zu einer zweiten Größe der Zeit. Doch erst Gert sah darin wirklich eine zweite Dimension der Zeit. In seiner Theorie war die Zeit eine Ebene. Der Mensch irrte wie ein von den Winden des Zufalls aufgewirbeltes Blatt weitgehend ziellos durch sein Leben. Er nannte das sein Schicksal, erfand Götter als die Ursache dafür. Er hatte gelernt, Schiffe zu bauen, die den Wind nutzten um nahezu jedes Ziel zu erreichen, aber dem Ozean der Zeit war er so hilflos ausgeliefert wie ein Schiff ohne Masten und Ruder. Gert war studierter Physiker und wusste, das die Zeit eine der wichtigsten Größen in den Naturgesetzen war. Jede Bewegung, jede Kraft, jede Strahlung oder Energie war von der Zeit abhängig. Kaum eine Formel oder Einheit enthielt keine zeitabhängigen Faktoren.

Er wusste, das diese Repräsentationen der Naturgesetze nur Modelle der Wirklichkeit waren, die über Generationen zwar immer wieder als korrekt bewiesen, aber auch für unvollständig befunden wurden. Benutzte Newton Für Licht noch ein Teilchenmodell, so versagte dieses Modell spätestens nach Beobachtung der Interferenz. Benutzte man lange das Wellenmodell, versagte dieses bei Entdeckung des photoelektrischen Effekt durch Einstein. Konnte man sich Materie nur aus Teilchen zusammengesetzt vorstellen, so bewies Schrödinger ihren Wellencharakter. Der Aufenthaltsort von Elektronen konnte nur statistisch angegeben werden, wie überhaupt die Statistik und die Chaos-Forschung ständig an Bedeutung gewannen. Gert hatte sich auf die Chaos-Forschung spezialisiert und hatte eines Tages die Idee, die Zeit nicht mehr mathematisch als reelle, sondern als komplexe Grösse zu behandeln.

So wie alle seriösen Physiker vor ihm, wollte auch er nicht die bisher entdeckten Naturgesetze anzweifeln, er bezweifelte nur ihre Vollständigkeit. Wie Einstein betrachtete er die möglichen Folgen seiner Theorie auf einfache und altbekannte Naturgesetze. Und dann viel es ihm wie Schuppen von den Augen, die Welt begann sich vor ihm aufzulösen. Nichts hatte mehr Bestand, die Realität verlor ihre Glaubwürdigkeit, Wahres wurde fraglich, Ereignisse hatten sich vielleicht nie ereignet, was als Aberglaube galt, wurde Realität. Schon einmal hatte man geglaubt, alle Naturgesetze zu kennen. “Die Natur macht keine Sprünge”, hieß es zu dieser Zeit, als man die Bewegungen der Elektronen in einem Atom noch nicht kannte.

Heute wurden die Existenz von UFOs, der Präkognition, von Telepathie und Telekinese gerne wissenschaftlich widerlegt, weil die bekannten Naturgesetze keinen Platz für sie boten. Es wurde vorgerechnet, wie lange ein UFO mit Lichtgeschwindigkeit von der Nachbargalaxis unterwegs wäre, es wurde behauptet, kein Lebewesen könnte das bewerkstelligen. Gert rechnete mit seinen modifizierten Formeln und ahnte etwas. Wer konnte denn beweisen, das die Zeit an sich ein stetiges Phänomen war? Was passierte an in Gedankenmodellen vorausgesetzten Unstetigkeitsstellen der Zeit mit den vielen von ihr abhängigen Größen? Sahen wir nicht bisher nur eine Projektion der Zeit? Krabbelten wir nicht bis vor kurzem noch wie Käfer auf einem Apfel über die Erdkugel ohne und ihre wahre Geometrie auch nur vorstellen zu können?

So wie die Wurzel aus vier nicht nur zwei reelle Lösungen hatte, sich sowohl reeller als auch imaginärer Anteil einer komplexen Zahl beim Quadrieren und Multiplizieren auslöschen konnten, konnte hinter der uns bekannten Weit eine im doppelten Sinn imaginäre Welt liegen. Wo wir nichts sahen, wo die Zeit für uns stillstand, lag die wirkliche Welt. Unsere begrenzten Sinne nahmen nur den Schatten der Wirklichkeit war, trotzdem galt diese Projektion als Realität oder alleinige Wahrheit. Gert sah das mittlerweile anders. Er glaubte an seine Theorie und suchte nach einem Beweis. Er musste die Natur der imaginären Zeit erkennen, Instrumente und Werkzeuge entwickeln, ihr auf die Spur zu kommen.

Er wollte ein Gerät entwickeln, mit welchem der Einfluss der imaginären Zeit messbar wurde, ja welches eine Navigation durch die Tiefen der Zeit erlaubte. Gleich einem Segel sollte es die Strömungen der Zeit erfassen, umlenken und damit sein Schiff, die Wahrheit, zum gewünschten Ziel führen. Nichts und niemand sollten mehr den Böen des Zufalls und Stürmen des Schicksals hilflos ausgesetzt sein. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sollten bedeutungslose Begriffe werden, genauso sinnlos wie der Vergleich von Zahlen in der komplexen Ebene nur aufgrund ihres reellen Anteils. Heute hisste er sein Segel in den Wind, aber es schien Flaute zu sein. Zumindest glaubte er das jetzt noch.

Er war so in Gedanken, daß er nur wenig darauf achtete, was um ihn herum geschah. Er wusste auch nicht, wie lange er schon hier sass und grübelte. Es gab auch nichts, was ihn hätte stören können. Es war vollkommen ruhig auf dem Marktplatz. Sogar das Plätschern des Brunnens hatte aufgehört. Als er sich umschaute und den Wasserstrahl sah, der in das Becken herab rann, wusste er auf einmal auch, warum. Ein anderer hätte bei dem was er sah, wahrscheinlich an seinem Verstand gezweifelt, zumal in dieser Jahreszeit. Er sprang jedoch mit einem Freudenschrei auf, denn er wusste jetzt, daß sein Experiment ein Erfolg war, auch wenn er das hier nicht erwartet hatte.

Reise in die Unwahrscheinlichkeit Link to heading

Eigentlich war gar nicht viel zu sehen. Von dem daumendicken Messingrohr des Brunnens verjüngte sich ein dünner Wasserstrahl und reichte nicht ganz bis zur Wasseroberfläche des Beckens. Darunter schwebten einige große Tropfen regungslos in der Luft. Das ganze wirkte wie eine dreidimensionale Ansichtskarte. Er hatte die Zeit zum Stillstand gebracht, oder genauer gesagt, bewegte sich senkrecht zu dem, was der Mensch Zeit nannte. Er konnte jetzt in ihr herumsegeln, wie es ihm beliebte. Jetzt begriff er auch endlich, wieso seine Uhr nicht stimmte, deren Sekundenzeiger unbeirrt weiter rannte. Seine Uhr war wohl in Ordnung, sie war mit in die Strömung geraten, die ihn von seiner Welt weg zu ihm unbekannten Gestaden der Zeit trieb.

Jetzt verstand er auch die alte Frau im Kiosk, der er vorgekommen sein musste wie eine Figur aus einem viel zu schnell ab gespulten Film. Bevor sie überhaupt reagieren konnte, war er schon wieder unterwegs gewesen. Auch die Meldungen in der Zeitung, ja deren ganze Aufmachung verstand er jetzt. In der Welt, aus der er kam, gab es freilich keinen Kanzler Seifert. Die Umgehungsstrasse war dort auch längst gebaut, im Kino liefen Science-Fiction-Filme, Western waren total aus der Mode. Die Angebote aus dem Supermarkt stimmen sicher jetzt auch nicht mehr, dachte er.

Das ganze begann ihn zu interessieren und er verliess den Brunnen auf dem Marktplatz. So statisch, wie die neue Welt ihm zuerst erschienen war, war sie gar nicht. Sie entbehrte nur jeder Stetigkeit. Manche Gegenstände wirkten unscharf oder durchsichtig, auf den Bürgersteigen erschienen blitzschnell Passanten und waren genauso schnell wieder verschwunden, Ihm war klar, das er nicht ganz ungefährlich lebte. Wenn er die Straße überquerte, konnte da, wo er gerade war, ein Auto erscheinen. Eine Brücke, die er überquerte, könnte zu existieren aufhören, weil sie zu dem betreffenden Zeitpunkt am an seinem Ort der Zeitebene nie existiert hatte. Er geriet in Panik. Würde er seine Wohnung wiederfinden? Wusste er denn überhaupt, wo er gerade wohnte? Würde er gar in eine Zeit geraten, in der er nie geboren wäre? Würde er je wieder eine Zeit erleben, in der er sich zurechtfand? Er war jetzt noch zielloser als in der normalen Zeit, hatte keine Orientierung, keine Sinne für das, was um ihn herum geschah. Er musste so schnell wie möglich zu seiner Maschine, wieder einen normalen Zeitverlauf erreichen. Die Hoffnung, seine eigene Zeit jemals wieder zu erreichen konnte er getrost aufgeben. Alles würde anders sein. Er hatte die Brücken zu seiner Vergangenheit gebrochen, kannte nur noch die Gegenwart- die Gegenwart war einmal mehr das einzig zuverlässige im Strom der Zeit. Seine Erfindung hatte ihn dahin gebracht, wo einst der Urmensch war, dem die Gegenwart allein noch reichte.

So schnell er konnte, rannte er zur Webergasse 12, daß heißt er hoffte, diese Strasse würde existieren und er hätte dort seine Wohnung. Wenn er daran dachte, mit wie viel Glück und Zufall er die Wohnung bekommen hatte, war er nicht sehr zuversichtlich. Unterwegs konnte er einem Dutzend wie Geister aus dem Nichts auftauchenden Passanten in letzter Sekunde ausweichen. Die Strasse mied er, beinahe wäre er gegen ein Haus gelaufen, das plötzlich vor ihm aufblitzte.

Unterwegs änderte der Zeitwind seine Richtung nochmals um ein paar Grad und es wurde ganz verrückt. Autos bewegten sich langsam wieder, fuhren nun aber rückwärts. Ihm war, als würde der grosse Vorführer im Kino seines Lebens den Film zurückspulen. Die Geräuschkulisse war unbeschreiblich. Leute spien Eiskugeln in Waffeln, die sie zum Eisstand brachten und Geld dafür erhielten. Einem schreienden Kind, dessen Laute eher wie das Nebelhorn eines Ozeandampfers klangen, flog vom Boden her ein Kuscheltier direkt in die Ärmchen und es gab Ruhe. Abfall quoll aus dem Mülleimer direkt in die Hände der Leute. Die Fontäne im Park sog endlos Wasser aus dem Becken. Die alte Frau im Kiosk verwandelte ein rosa Baby-Jäckchen in ein sauber aufgerolltes Wollknäuel. In der Ferne schlug die Glocke der Kirchturmuhr erneut halb Fünf, klang aber wie eine Orgel.

Odyssee durch die Zeit Link to heading

Total entnervt erreichte er sein Apartment im zweiten Stock. An der Tür stand noch sein Name. Er wollte die Tür gerade öffnen und suchte noch den Schlüssel, als jemand die Tür öffnete, durch ihn hindurch ging und hastig abschloss. Offensichtlich war sein anderes Ich so beschäftigt, das es sich selbst, vor der Tür stehend, nicht wahrnahm. Während sein anderes ich die Treppe herunterging, schloss Gert die Tür wieder auf und begab sich direkt zu seiner Maschine.

Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Reflektor und überlegte. Die Zeit lief wohl gerade wieder einmal vorwärts, denn sein zweites ich hatte ja die Wohnung verlassen. In dem Zeitbereich, in dem er gerade war, hatte er aber später das Haus verlassen, denn der Radiowecker zeigte fünf nach halb Fünf an. Er machte das Radio an und fand seine Vermutung bestätigt. Der Nachrichtensprecher hatte zwar eine Grabesstimme, war aber sonst zu verstehen. Er bewegte sich also sicher vorwärts durch die Zeit. Der Sprecher erzählte etwas von einem Psi-Phänomen, welches verschiedene Leute in der Innenstadt gesehen haben wollten. Sie behaupteten ernsthaft, ein ungepflegt aussehender junger Mann sei aus dem Nichts aufgetaucht und wieder verschwunden. Manche seien diesem Phantom in letzter Sekunde ausgewichen. Der Nachrichtensprecher erzählte noch etwas von Massenhysterie und Kriminalpolizei, aber Gert reichte es und er schaltete das Radio aus. Wenn er nicht als enttarnter Geist oder Bürgerschreck gelten wollte, musste er sein Äußeres wohl verändern. Aber er hatte zur Zeit ganz andere Probleme.

Er fragte sich, was passierte, wenn er in einer Zeit blieb, in der er ein zweites Ich hatte. Möglicherweise war der andere ja sogar in dieser Zeit zuhause und er würde in jeder Hinsicht den kürzeren ziehen. Was würde passieren, wenn sie sich begegnen würden, was früher oder später passieren würde, wenn er hier sitzenblieb. Der andere würde irgendwann zurückkommen und Ärger mit ihm anfangen. Er gehörte einfach nicht hierher, er war sich selbst ein Störenfried. Mit Schrecken prüfte er die Möglichkeiten die ihm blieben:

-   Ein Zeitpunkt, zu dem er schon existierte brachte Probleme mit
seinem Doppelgänger.
-   Ein Zeitabschnitt,in dem er nie existiert haben würde, stellte seine
Existenz in Frage.
-   Ein Zeitabschnitt, in dem er nicht mehr existierte, würde
Scherereien mit den Behörden geben, eine Wiedergeburt würde ihm
keiner abnehmen.
-   Ein total anderes Zeitalter: Nein Danke, ans Kreuz genagelt oder als
Zauberer verbrannt zu werden war auch keine gute Vorstellung. Und
wie ein Neandertaler in einer fremden Zukunft herum zu laufen war
wahrscheinlich noch weniger empfehlenswert.
-   Seine alte Zeit wiederfinden: Das wäre ideal, nur wie?
-   Bis ans Ende seiner Tage durch die Zeiten irren: Davon hatte er
jetzt schon genug.

Ausserdem konnte er ja nicht mehr ausschliessen sich selbst zu begegnen, denn sein anderes Ich konnte ja auch beliebig durch die Zeiten reisen. Er könnte sich sogar in zehnfacher Ausfertigung begegnen, wenn er öfters durch einen Zeitpunkt kam. Vielleicht sollte er mit sich selbst einen Staat aufmachen, dachte er mit einem Rest noch verbliebenen, wahnsinnigem Humor.

Nein, vorerst blieb ihm nur, weiterzureisen und zu erlernen, wie er sich im Zeitmeer orientieren konnte.

Er hatte eine genial einfache Idee. Er ging in die Küche, holte die Küchenuhr und stellte sie auf den Schreibtisch. Ihr grosser Sekundenzeiger würden ihm wenigstens anzeigen, mit welcher Richtung und Geschwindigkeit er sich auf der reellen Zeitachse bewegte.

Er setzte sich vor die Tastatur, schaltete den Generator ein und veränderte den Reflektionswinkel seines Zeitsegels und wartete. Er dümpelte gemächlich in Richtung Zukunft (Die Begriffe Zukunft und Vergangenheit verwendete er wieder Für die erkennbare Projektion der Zeit). Er veränderte den Winkel um neunzig Grad und der Sekundenzeiger lief rückwärts. Wenn er es schaffen würde, Küchenuhr und Armbanduhr synchron zu kriegen, würde wenigstens die Bewegung in der imaginären Richtung aufhören, dachte er. Dann könnte er rausgehen, ohne befürchten zu müssen, deiner Umwelt als Geist zu erscheinen. Gut, er würde wahrscheinlich sich selbst über den Weg laufen, aber das war ja noch das kleinste Übel. Er würde sich schon mit sich selbst verständigen, er war ja kein Unmensch. Nur wenn sie draussen zusammen gesehen würden, könnte es Ärger geben. Dem Finanzamt käme ein Steuer unterschlagender Zwillingsbruder gerade recht.

Er regelte nun solange am Reflektor herum, bis die Sekundenzeiger synchron liefen, schaltete den Generator aus und klappte dann den Reflektor zusammen. Nun wollte er seinen Doppelgänger suchen, um sich mit ihm zu arrangieren. Dieser würde ja mit größter Wahrscheinlichkeit in der Nähe vom Marktplatz sein, dort würde man sie beide auch nicht zusammen sehen, wenn er sich hinter dem Ahornbaum versteckte. Er ging zur Tür hinaus, die er hastig abschloss und war so in Gedanken, dass er seinen Doppelgänger nicht sah, der gerade seinen Hausschlüssel suchte. Er ging nun die Treppe hinunter und verliess das Haus. Er ging wieder denselben Weg durch den Park in Richtung Innenstadt.

Sei dir selbst Dein Bruder Link to heading

Als er vor dem Strassenkaffee war, tauchte sein Doppelgänger mit rot angelaufenem Gesicht aus dem Nichts vor ihm auf, fing an, ihn anzubrüllen, beschimpfte ihn als Trottel. Er sah unmöglich aus. Blut lief ihm aus der Nase und befleckte sein Hemd. Er war voller Dreck, naß und sicher nicht bei klarem Verstand. Bevor er noch etwas sagen konnte, bekam Gert einen Faustschlag auf die Nase, der ihn zu Boden warf. Bevor er einen Schlag erwidern konnte löste sich sein anderes Ich in nichts auf. Er sass noch benommen auf dem Boden und langsam bildete sich ein Menschenauflauf um ihn herum.

Die Leute glotzten ihn an, wie ein Wesen vom anderen Stern und riefen nach der Polizei. Um weiteres Aufsehen zu vermeiden, stand er auf und ging weiter zum Brunnen, um sich das Blut aus dem Gesicht zu waschen, das seit dem Schlag aus seiner Nase strömte. Als er an dem Brunnen am Marktplatz ankam, gefror dieser vor seinen Augen. Gert kannte diesen Effekt nun schon und hatte langsam mehr als genug davon. Was war nun schon wieder los? Er hatte doch die Maschine abgestellt, als er das Haus verliess. Sicher, sie war noch auf seine Chronoresonanz, sein Orgon justiert, würde sie jemand einschalten und damit herumspielen, hätte er nichts zu lachen. Aber wer konnte das schon sein? Die Tür hatte er abgeschlossen und ein Einbrecher hätte wohl kaum ein Interesse an seiner Maschine. Dann kam ihm ein furchtbarer Gedanke.

War sein anderes Ich etwa schon zu Hause? Er erinnerte sich an seine Experimente, als er von seinem ersten Ausflug zurückkam. Da hatte er eine ganze Zeit an der Maschine herumgespielt, bevor er sich mit dieser Zeit, aus der er jetzt wieder herausgeworfen worden war, synchronisiert hatte. Nun brachte sein anderes Ich wieder alles durcheinander. Er bekam einen Wutanfall und rannte wieder nach Hause. Hatte dieser Trottel auch noch die Stirn, Krach mit ihm angefangen! Wenn er den zwischen die Finger bekäme.

Vor dem Straßenkaffee erschien der andere wie ein gerufener Flaschengeist. Doppelgänger’s ahnungslose Miene brachte ihn nur noch mehr in Rage. Er stieß wüste Beschimpfungen aus und versetzte diesem Schwachkopf einen Faustschlag auf die Nase, daß dieser zu Boden ging. Bevor der andere sich hochrappeln konnte, lief er weiter nach Hause und versetzte die Passanten in Angst und Schrecken.

Wie würden Sie auf einen blutverschmierten, tobenden Kerl reagieren, der auf Sie losgeht, um einen Meter vor Ihnen zu verpuffen? Oder Sie stehen an der Bushaltestelle und plötzlich formt sich die Luft vor Ihnen zu einem furchterregend gestikulierenden Poltergeist, der Ihnen einen höchst realistischen Tritt gegen das Schienbein versetzt?

Nun gut, es fehlte nicht mehr viel zu einem Volksaufstand, man sprach schon vom wiederauferstandenen Antichrist, als Gert zuhause ankam. Jetzt konnte er nur noch verschwinden. Die weitere Raum/Zeitumgebung dieses Orts war für ihn nicht mehr sicher. Er setzte sich vor seine Maschine, faltete den Reflektor auseinander und schaltete den Generator ein. Er kümmerte sich nicht mehr um Richtung und Geschwindigkeit, er wollte bloss weg von hier, se schnell es ging. Seitdem geistert er durch Jahrhunderte und Zeitebenen. Nirgendwo kann er bleiben, ständig ist er auf der Flucht vor sich selbst, was hier durchaus wörtlich und physisch gemeint ist.

Alle Zeit der Welt dem Zeitlosen Link to heading

Vielleicht werden Sie ihn einmal sehen. Erschrecken Sie also nicht, wenn sich vor Ihnen ein verwahrloster Typ mit irrem Blick materialisiert. Er ist kein Geist und schon gar nicht der Antichrist, wie Sie leicht merken können, wenn er Ihnen zünftig eine runterhaut. Sie brauchen auch nicht an ihrem Verstand zu zweifeln, Zweifel an seinem sind dagegen durchaus angebracht. Er wird Ihnen alles erklären können, soweit er dazu noch in der Lage ist. Er könnte eigentlich stolz auf sich sein, denn er ist der erste Mensch, der die Fesseln von Vergangenheit und Zukunft ein für alle Mal losgeworden ist. Wenn er Sie stört, sagen Sie nur, Sie hätten Ihn gerade eben schon einmal gesehen. Er wird Sie dann nie mehr behelligen.